Wir müssen reden, Keigo
Geschrieben von flups amFrüher oder später musste es so weit kommen. Wir beschäftigen uns heute mit dem japanischen Höflichkeitssystem Keigo. Viele Japanisch-Lerner haben vor Keigo mehr Angst als vor Kanji – und das will was heißen. Schließlich sind Kanji die Drachenschriftzeichen, die selbst Fortgeschrittene in die Knie zwingen. Doch ist Keigo wirklich so schlimm – oder einfach nur missverstanden?
Keigo hat sich seinen Ruf als Sprachmonster auch durch solche Memes verdient, die in sozialen Medien gerne kursieren.
Oft liest man auch, dass selbst Japaner mit Keigo nicht klarkommen. Die deutsche Wikipedia schreibt:
„Eine fehlerlose Beherrschung des Keigo im freien Gespräch können nur wenige Japaner für sich beanspruchen.“
Ich halte das für maßlos übertrieben. Und selbst wenn es stimmt, heißt das nicht, dass Japaner grundsätzlich Probleme mit Keigo haben. Jede Sprache hat Zweifelsfälle, mit denen sich selbst Muttersprachler schwertun.
Wo fangen wir an - und wo wollen wir hin?
Üblicherweise folgt jetzt zu jeder Keigo-Art eine Erklärung, welche besonderen Vokabeln oder Bildungsregeln es gibt. Das Ziel dieses Artikels ist jedoch ein anderes: Ich möchte zunächst ein generelles Verständnis für Keigo schaffen. Was ist Keigo? Wie unterscheiden sich die verschiedenen Keigo-Arten?
Im Anschluss folgt dann ein praktisches Beispiel – ein Ausschnitt aus einer Kurzgeschichte –, in dem man Keigo in Action sehen kann. So entsteht ein Gefühl für die sprachliche Dynamik, bevor wir uns in späteren Beiträgen den einzelnen Formen im Detail widmen.
Was ist Keigo eigentlich?
Das Wort Keigo setzt sich zusammen aus den Schriftzeichen für Respekt und Sprache. Es umfasst alle Elemente der Japanische Sprache, die wir verwenden, um Achtung und Höflichkeit auszudrücken.
Keigo ist jedoch viel mehr als das. Das macht es für uns Japanisch-Lernende so vermeintlich undurchdringlich.
| Kategorie | Beschreibung | Beispiel | Keigo-Bezug |
|---|---|---|---|
| Sprachregister | Variation je nach sozialem Kontext, Formalität, Beziehung | Duzen vs. Siezen (Deutsch), tu vs. vous (Französisch) | ✅ Keigo ist ein Register – z. B. desu-masu-Stil vs. Plain Style |
| Honorifikatives System | Grammatikalische Mittel zur Darstellung von Respekt oder Bescheidenheit | Koreanisch: 주다 → 드리다 / 주시다 | ✅ Keigo ist ein Honorifikativsystem – z. B. いらっしゃる, いただく |
| Soziopragmatisches System | Sprachwahl abhängig von Gruppenzugehörigkeit, Status, Beziehung | Familie, Freunde, Firma, Verein (Deutsch, Französisch) | ✅ Keigo basiert auf Uchi–Soto |
| Stilistik / Sprachton | Ausdruck von Höflichkeit, Distanz, Nähe durch Wortwahl und Satzstruktur | „Würden Sie bitte…“ vs. „Mach mal…“ | ✅ Keigo umfasst stilistische Mittel wie Bikago (お卵, ご案内) |
| Grammatikalisches Subsystem | Eigenständige grammatische Formen und Konjugationen | Teichōgo: おる, いたす; Kenjōgo: 差し上げる | ✅ Keigo hat eigene grammatische Strukturen |
| Kulturelles Kommunikationsmodell | Sprache als Ausdruck von Weltbild, Hierarchie, Harmonie | Japan: Selbsterniedrigung als Höflichkeit | ✅ Keigo ist Ausdruck japanischer Sozialethik |
Tatsächlich habe ich lange überlegt, ob ich diese Tabelle in diesen Artikel mit einbringen soll oder ob sie nicht noch mehr abschreckt, als die Memes aus dem Internet. Ich hab mich dann doch dazu entschieden. Aber keine Sorge, wir werden uns dem Schritt für Schritt nähern.
Für den Anfang muss man bei Keigo zwei grundsätzlich verschiedene Bezugspunkte betrachten.
1. Mit wem spreche ich?
Zu diesem Bezugspunkt gehören:
- Teineigo (丁寧語)
Die einfache Höflichkeitsform, auch bekannt als desu-masu-Stil. Mit Teineigo drücke ich Höflichkeit gegenüber meinem Gesprächspartner aus. Es grenzt sich somit von der neutralen Sprache (Futsuugo oder Plain Style) ab. - Teichōgo (丁重語)
Zuvorkommende Sprache gegenüber meinem dem Gesprächspartner. Bei Teichōgo spreche ich mit einer gedachten Verbeugung. Teichōgo wird auch als „Service-Japanisch“ bezeichnet – obwohl dies nur einen Teilaspekt abdeckt.
Da sich hier die Höflichkeit an Gesprächspartner richtet, wird dies auch Taisha Keigo (対者敬語) genannt.
2. Über wen spreche ich?
Zu diesem Bezugspunkt begegnen uns zwei weitere Keigo-Arten:
- Sonkeigo (尊敬語)
Verwende ich, wenn ich über die Handlungen einer höhergestellten Person spreche. Diese ist das Subjekt. Eselsbrücke: Sonkeigo und Subjekt beginnen beide mit „S“. Sonkeigo wird auch als respektvolle Sprache bezeichnet. - Kenjōgo (謙譲語)
Verwende ich, wenn ich bescheiden über meine eigenen Handlungen spreche, die sich an eine höhergestellte Person richten, indem sie die Person, an die sie gerichtet ist, in den Vordergrund stellt. Vereinfacht kann man sagen, ich tue etwas für die höhergestellte Person, auch wenn das nicht alle Anwendungsfälle abdeckt. Kenjōgo bedeutet wörtlich bescheidene Sprache.
Sonkeigo und Kenjōgo werden als Sozai Keigo (素材敬語), also Höflichkeit gegenüber der Bezugsperson bezeichnet.
Die Begriffe Taisha Keigo und Sozai Keigo sind nur der Vollständigkeit halber aufgeführt. Sie sind nicht besonders geläufig in der Didaktik, man muss sie sich also nicht merken.
Kenjōgo vs. Teichōgo: Eine oft übersehene Unterscheidung
In vielen Lehrbüchern wird leider nicht zwischen Kenjōgo und Teichōgo unterschieden – beide werden pauschal als humble speech bezeichnet. Dadurch bleibt Lernenden oft verborgen, dass es sich um zwei unterschiedliche sprachliche Strategien handelt.
Auch Online-Wörterbücher wie Jisho oder Wadoku tragen zu dieser Unschärfe bei, indem sie beide Begriffe unter dem gleichen Etikett führen.
Der Japanische Kulturrat hat 2007 in seiner Richtlinie Keigo no Shishin (敬語の指針) eine klarere Differenzierung eingeführt:
- Kenjōgo I:
自分側から相手側又は第三者に向かう行為・ものごとなどについて,その向かう先の人物を立てて述べるもの。
Eine Ausdrucksweise, bei der man über Handlungen oder Dinge spricht, die von der eigenen Seite zur Gegenseite oder zu einer dritten Person gerichtet sind – und dabei die Person, zu der sie sich richten, besonders hervorhebt. - Kenjōgo II (Teichōgo):
自分側の行為・ものごとなどを,話や文章の相手に対して丁重に述べるもの。
Eine Ausdrucksweise, in der man eigene Handlungen oder Sachverhalte dem Gesprächspartner oder Leser gegenüber in besonders höflicher Weise beschreibt.
Diese Einteilung hilft, die Funktion der jeweiligen Ausdrucksweise besser zu verstehen – und zeigt, dass Keigo nicht nur grammatikalisch, sondern auch sozial differenziert gedacht werden muss.
Außerhalb: Bikago (美化語)
Last but not least gibt es eine weitere Keigo-Art: Bikago, wörtlich „verschönerte Sprache“. Dazu gehört z. B. die Höflichkeitspräfixe お und ご, die man Nomen, Verben oder Adjektiven voranstellt, um sie höflicher klingen zu lassen.
Wenn man statt 卵 einfach お卵 sagt, klingt das gleich ein bisschen höflicher – auch wenn es grammatikalisch keine tiefere Funktion erfüllt.
Bikago zieht sich durch alle Keigo-Arten hindurch. Es ist tief in der Alltagssprache verankert und mit vielen Begriffen mittlerweile unabhängig von der Höflichkeit untrennbar verbunden.
Ein Bild sagt mehr als tausend Regeln
Wer jetzt denkt: Das klingt kompliziert – hat recht. Allerdings lassen sich die Eigenschaften der verschiedenen Keigo-Arten gut als Diagramm visualisieren.
Keigo in der Praxis
Der folgenden Textzeilen stammt aus der Kurzgeschichte 手首を拾う von Natsuhiko Kyōgoku. Sie eignet sich hervorragend, um die verschiedenen Ebenen des Keigo anschaulich zu machen. Ich habe diesen Text gewählt, weil er meine erste bewusste Begegnung mit Keigo war.
Dieser Abschnitt dient als Einstieg. Es ist nicht notwendig, sich die jeweiligen Formen bereits jetzt einzuprägen – darauf werden wir in späteren Beiträgen ausführlich eingehen. Ziel ist es zunächst, ein Gefühl dafür zu bekommen, wie die unterschiedlichen Keigo-Arten im Kontext verwendet werden.
🏨 Die Situation: Ein Gast trifft an der Rezeption ein und fragt nach seinem Zimmer
「その時と同じ部屋を所望したのだけれど、話は通っているだろうか」
„Ich habe dasselbe Zimmer wie beim letzten Mal angefragt. Hat Sie diese Nachricht erreicht?“
Der Gast spricht hier im Plain Style mit dem Hotelpersonal. Das deutet auf eine hierarchische Beziehung hin: Er steht über dem Personal und nimmt sich heraus, sie zu „duzen“.
承っておりますと番頭は嗄れた声で丁寧に云った。
„Ich verstehe“, sagte der Portier höflich mit heiserer Stimme.
In 承っております finden sich gleich drei Ebenen der Höflichkeit:
- ます-Form: Teineigo-Ausdruck allgemeiner Höflichkeit. Diese basale Höflichkeitsendung werde ich im folgenden nicht mehr separat erwähnen, da sie einfach dazu gehört.
- おる: Teichōgo für いる – der Portier zeigt sich bescheiden gegenüber seinem Gesprächspartner, als spräche er mit einer gedachten Verbeugung.
- 承る: Kenjōgo für 聞く – der Portier ist Subjekt der Handlung, der Gast ist unmittelbar beteiligt.
Auf Plain Style heruntergebrochen sagt der Portier: 聞いている – „Ich höre Sie“, was ich sinngemäß mit „Ich verstehe“ übersetzt habe.
「牡丹の間でございます」
„Es ist das Pfingstrosenzimmer.“
Hier spricht der Portier nicht über den Gast, sondern über dessen Zimmer. Da dem Zimmer gegenüber keine Höflichkeit erforderlich ist, entfallen Sonkeigo und Kenjōgo.
Um dennoch besondere Höflichkeit gegenüber dem Gast auszudrücken, verwendet er でございます statt です. Beide Formen gehören formal zum Teineigo. Da Teichōgo keine eigene Kopula besitzt, verschwimmen hier die Grenzen zwischen Teineigo und Teichōgo. Um diesen Übergang greifbarer zu machen, habe ich von meinem Sensei die Bezeichnung Super-Teineigo übernommen.
「お客様が正確な年月日をお教え下さいましたので、何の手間もございませんでした」
„Der geehrte Gast hat uns das exakte Datum mitgeteilt, sodass keine Umstände entstanden.“
Im ersten Teilsatz spricht der Portier über eine Handlung, die der Gast selbst ausgeführt hat – daher wird Sonkeigo verwendet. Das zeigt sich an:
- お客様 – der geehrte Gast
- お教え下さいました – Sonkeigo für 教えてくれた („hat uns informiert“)
Im zweiten Teilsatz geht es um die Abwesenheit von Problemen. Daran hat der Gast keinen Anteil, also bleibt uns erneut nur Super-Teineigo.
仲居がご案内いたしますと云って歩き出す。
„Das Zimmermädchen sagt: ‚Ich geleite Sie hin‘ und macht sich auf den Weg.“
Auch hier begegnen uns zwei Ebenen der Höflichkeit:
- ご案内する: Kenjōgo – das Zimmermädchen ist Subjekt der Handlung, der Gast ist beteiligt (er kommt mit).
- いたします: Teichōgo für します – sie spricht mit einer gedachten Verbeugung zum Gast.
Kurzes Innehalten zum Abschluss
An unserem Beispielstext können wir erkennen, dass Keigo eine ganze Menge über das Verhältnis zwischen den Hotelangestellten und dem Gast aussagt. Darüber hinaus können wir aber auch an der Keigo-Form erkennen, wer aktiv handelt und wer an der Handlung beteiligt ist.
- Bei Teichōgo macht der Sprecher etwas für sich.
- Bei Kenjōgo macht der Sprecher etwas für eine andere Person.
- Bei Sonkeigo macht eine andere Person etwas.
Keigo gibt uns also zusätzlichen Kontext, und davon kann man im Japanischen nie genug haben.
Keigo ist nicht unser Feind, der uns in unüberwindbare Schwierigkeiten bringen möchte. Wenn wir uns die Nuancen von Keigo zunutzen machen, kann es uns beim Verständnis Japanischer Literatur ein wahrer Freund werden.
Literatur über Keigo
- Ivona Barešova, On the categorization of the Japanese honorific system Keigo, Topics in Linguistics - Issue 15 – June 2015 (PDF)
Artikel über die geschichtliche Entwicklung der Japanischen Höflichkeitssprache von dreistufigen zum modernen fünfstufigen System - Richtlinien zur Höflichkeitssprache (敬語の指針 ), Japanischen Kulturrats (文化審議会), 2007 (PDF)
Grundlage für das moderne moderne fünfstufige System, auf Japanisch - 新にほんご敬語トレーニング, 金子広幸 , 2022, ISBN 978-4866395708 (Amazon JP)
Keigo-Trainingsbuch für Japanisch-Lernende mit praktischen Fallbeispielen. Das Buch basiert noch auf dem dreistufigen System, ist aber dennoch sehr praktisch. Auf Japanisch. - ドラえもんの国語おもしろ攻略 敬語早わかり, 2013, ISBN 978-4092538511 (Amazon JP)
Keigo mit Doraemon. Lerncomic mit der Zielgruppe Grundschüler. Verwendet das moderne fünfstufige System.
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