Volitionale und non-volitionale Verben - Zwischen Absichten und unkontrollierbaren Handlungen
Geschrieben von flups amIch habe schon ein paar mal von volitionalen (意志動詞) und non-volitionalen (無意志動詞) Verben geschrieben, ohne jemals richtig zu erklären, was das eigentlich bedeutet. Diese Unterscheidung ist jedoch wichtig, um bestimmte grammatische Konstruktionen richtig zu verstehen und anzuwenden.
Im Deutschen wird dieser Unterschied meist nur inhaltlich vermittelt, während das Japanische ihn auch grammatisch kenntlich macht. Besonders deutlich wird das etwa bei der Bildung der 意志形 (Volitionsform), die ausschließlich mit volitionalen Verben verwendet werden kann.
Volitionale Verben – Wenn Absicht sprachlich sichtbar wird
Volitionale Verben (意志動詞) bezeichnen Handlungen, die bewusst und aus eigenem Willen ausgeführt werden. Im Japanischen spielt dieser Aspekt auch grammatisch eine Rolle: Bestimmte Konstruktionen setzen voraus, dass die Handlung vom Subjekt aktiv gewollt ist.
Mit volitionalen Verben sind solche gemeint, deren Bedeutung eine steuerbare Handlung durch das Subjekt voraussetzt. Die Begriffe „volitional“ und „kontrollierbar durch das Subjekt“ sind hier inhaltlich deckungsgleich. Ein Verb wie 書く (schreiben) setzt voraus, dass das Subjekt aktiv entscheidet, diese Handlung auszuführen – anders als etwa 壊れる (kaputtgehen), das einen unwillentlichen Vorgang beschreibt.
Ein typischer Fall ist die 意志形 (Volitionalform, Absichtsform) – die Verbform mit der Endung ~よう:
- 行こう („Ich gehe los“) drückt eine Absicht aus.
- 食べようと思う („Ich denke daran, zu essen“) zeigt einen geplanten Vorgang.
Zwar lässt sich die 意志形 technisch für nahezu alle Verben bilden, ihre Verwendung als Ausdruck von Absicht ist jedoch inhaltlich auf volitionale Verben beschränkt. Bei Verben wie 壊れる („kaputtgehen“) oder 分かる („verstehen“) wirkt die 意志形 semantisch widersprüchlich, da kein steuerbarer Wille vorliegt.
Volitionale Verben werden z. B. in folgenden Mustern verwendet:
- ~つもりだ („beabsichtigen“)
- ~ことにする („sich dazu entschließen“)
- ~たい („möchten“)
- 意志形+とする („versuchen etwas zu tun“, „im Begriff sein etwas zu tun“)
Bildung der 意志形
Die 意志形 lässt sich regelmäßig aus der Grundform des Verbs bilden. Für die meisten Lernenden genügt die praktische Konjugationsregel – doch auch grammatiktheoretisch lässt sich ihre Entstehung genauer herleiten.
1. 一段動詞 (Ichidan-Verben)
Man entfernt die Endung und hängt ~よう an.
- 食べる → 食べよう
- 見る → 見よう
- 起きる → 起きよう
2. 五段動詞 (Godan-Verben)
Hier wird der Verbstamm in der o-Stufe ~う angefügt.
- 書く → 書こう
- 飲む → 飲もう
- 話す → 話そう
- 待つ → 待とう
- 死ぬ → 死のう
3. 不規則動詞
Diese bilden die 意志形 auf eigene Weise:
- する → しよう
- くる → こよう
Grammatik für Nerds
Historisch basiert die 意志形 auf der Kombination der 未然形 (Mizenkei, „Nicht-Fertig-Form“, nai-Stamm) eines Verbs mit dem Hilfsverb う (助動詞). Dieses Hilfsverb drückte in der klassischen Sprache Bewegung, Absicht oder Versuch aus.
Morphologische Ableitung bei 五段-Verben
Die 意志形 entsteht aus einer umgelauteten Nebenform der 未然形, bei der der ursprüngliche a-Vokal zu o wechselt. Anschließend wird う angefügt.
- 書く → 書か → 書こ → 書こう
- 飲む → 飲ま → 飲も → 飲もう
Obwohl die Umlautung nicht mehr produktiv ist, bleibt sie morphologisch relevant und erklärt die Formbildung über historische Hilfsverbkombinationen.
未然形 bei する
Das Verb する besitzt drei unterschiedliche 未然形, abhängig vom anschließenden Ausdruck:
- さ – für Kausativ: させる
- し – für die meisten Anschlüsse wie 意志形 oder Verneinung: しよう, しない
- せ – für den klassischen Imperativ (命令形): せよ
未然形 bei くる
Bei くる lautet die未然形 こ, daraus ergeben sich:
- 意志形: こよう
- Negation: こなない
- Kausativ: こさせる
Auch diese unregelmäßigen Verben lassen sich in der klassischen Grammatik systematisch aus der 未然形 ableiten – wenn auch ihre Formen isoliert betrachtet oft als Sonderfälle gelten.
Beispiele
意志形 – einfache Verwendung
- 行こうと思う。
Ich habe vor, loszugehen. - 明日から毎日走ろうと思っている。
Ich habe vor, ab morgen täglich zu joggen. - 日本語をもっと勉強しよう。
Lass uns mehr Japanisch lernen.
意志形+とする – Versuch oder beginnender Vorsatz
- 彼は会社を辞めようとしている。
Er ist im Begriff, in seiner Firma zu kündigen.
~つもりだ – klarer Plan oder feste Absicht
- 今年はJLPT N2に合格するつもりだ。
Ich habe fest vor, dieses Jahr den JLPT N2 zu bestehen. (= ich tue alles mir mögliche dafür) - 週末は部屋を片付けるつもりです。
Ich habe fest vor, am Wochenende mein Zimmer aufzuräumen.
⚠️ Auch wenn 合格する („bestehen“) grammatikalisch als volitional gilt, bleibt das tatsächliche Prüfungsergebnis außerhalb der direkten Kontrolle des Prüflings. Der Satz 今年はJLPT N2に合格するつもりだ zeigt also einen Vorsatz mit externem Ausgang – sprachlich ist die Absicht klar, inhaltlich liegt das Resultat aber bei Bewertung und Umständen. Solche Formulierungen sind im Japanischen üblich, obwohl der Zielerfolg nicht gesichert ist.
~ことにする – getroffene Entscheidung
- 毎日30分勉強することにした。
Ich habe entschieden, täglich 30 Minuten zu lernen. - 酒を控えることにします。
Ich habe beschlossen, den Alkoholkonsum einzuschränken.
Jede dieser Konstruktionen setzt ein volitionales Verb voraus. Die zugrunde liegende Handlung muss aktiv gewollt oder steuerbar sein, sonst ergibt die Aussage keinen Sinn. Sätze wie 壊れるつもりだ oder 倒れることにする wären technisch möglich, aber inhaltlich widersprüchlich.
Non-volitionale Verben – Vorgänge ohne steuerbare Absicht
Non-volitionale Verben (無意志動詞) bezeichnen Vorgänge, Zustände oder Veränderungen, die vom Subjekt nicht aktiv gesteuert werden. Dazu gehören etwa Verben wie 壊れる (kaputtgehen), 分かる (verstehen), 凍る (einfrieren), 起こる (geschehen) oder 降る (regnen). Diese Verben drücken Ereignisse aus, die unabhängig vom Willen des Handelnden ablaufen. Alle Zustandverben (いる, ある, できる), Potenzialformen sowie Spontaneitätsverben (見える, 聞える, 思える) sind non-volitional.
Obwohl man auch von non-volitionale Verben die 意志形 bilden kann, sind sie funktional eingeschränkt, sobald sie mit grammatischen Mustern kombiniert werden, die Absicht, Wunsch oder Wille voraussetzen.
Betroffen sind zum Beispiel:
- 意志形 als Ausdruck eines Vorsatzes
- ~たい („möchten“)
- ~ことにする („beschließen“)
Diese Ausdrücke sind mit non-volitionalen Verben nicht sinnvoll kombinierbar, da die semantische Grundlage – ein steuerbarer Handlungsvorsatz – fehlt.
Andere Muster wie 意志形+とする oder つもりだ können auch mit non-voltionalen Verben verwendet werden, nur ändert sich dann deren Bedeutung:
- 意志形+とする drückt bei non-volitionalen perfektiven Verb ein sich anbahnenden Ereignis aus
- 〜つもりだ mit non-volitionalen Verben drückt Überzeugung oder Irrtum über einen anhaltenden Zustand aus.
Beispiele
❌ Konstruktionen mit Absichtsbezug (nicht sinnvoll)
- 分かろうと思う。
→ Formal korrekt, aber semantisch fragwürdig: „Etwas verstehen wollen“ lässt sich nicht willentlich herbeiführen. - 壊れたい。
→ Bedeutet etwa „Ich möchte kaputtgehen“ – grammatisch möglich, aber inhaltlich widersinnig. - 凍るつもりだ。
→ Etwa „Ich beabsichtige einzufrieren“ – nur in metaphorischer Sprache plausibel.
🟢 ~ようとする mit non-volitionalen Verben
- 雨が降ろうとする。
→ Es sieht nach Regen aus / Es fängt gleich an zu regnen. - 氷が溶けようとしている。
→ Das Eis beginnt zu schmelzen. - 子どもが泣こうとしている。
→ Das Kind ist im Begriff zu weinen.
🟢 ~つもりだ mit non-volitionalen Verben – subjektive Einschätzung
- 知っているつもりだ。
→ „Ich bin überzeugt, es zu wissen.“
– Ausdruck einer subjektiven Wahrnehmung oder eines Irrtums, nicht eines Vorsatzes. - 理解したつもりになっていた。
→ „Ich glaubte, es verstanden zu haben.“
– Keine Absicht, sondern ein inneres Urteil über eine vergangene Handlung.
Diese Verwendungen von ~つもりだ zeigen, dass die Konstruktion nicht zwingend eine steuerbare Handlung voraussetzt, sondern auch im Kontext non-volitionaler Verben und abgeschlossener Zustände eine subjektive Einschätzung oder Fehleinschätzung ausdrücken kann. Ich verweise an dieser Stelle über den eigenen Blog-Artikel zu 〜つもり.
Exkurs – ことになる als Ausdruck nicht steuerbarer Entscheidung
Die Konstruktion ~ことになる beschreibt in der Regel eine Entscheidung oder Entwicklung, die von außen bestimmt wurde oder sich objektiv ergeben hat – also ohne direkte Einflussnahme durch das Subjekt.
- 仕事で大阪に行くことになった。
→ „Es wurde entschieden, dass ich beruflich nach Osaka fahre.“
– Die Entscheidung liegt außerhalb des eigenen Willens. - 会議は中止ということになりました。
→ „Es wurde beschlossen, dass die Besprechung abgesagt wird.“
– Das Ergebnis wurde durch äußere Umstände bestimmt.
Funktional steht ことになる damit im Gegensatz zu ことにする, das eine aktive, subjektive Entscheidung ausdrückt. In der Regel ist ことになる daher ein non-volitionaler Ausdruck, auch wenn das zugrundeliegende Verb selbst volitional sein kann.
Details zur Verwendung und typischen Kontexten findest du im separaten Artikel „~ことになる“.
Zwischen Absicht und Reflex: semantisch ambivalente Verben
Nicht alle Verben lassen sich klar in volitional oder non-volitional einteilen. Einige bilden eine semantische Übergangszone – sie können je nach Kontext und Perspektive sowohl absichtlich als auch reflexiv oder emotional verstanden werden.
Typische Beispiele:
- 笑う („lachen“) – Kann eine bewusste soziale Handlung oder ein reflexiver Gefühlsausdruck sein.
→ 笑おうとする: „Ich versuche zu lachen“ – z. B. in belastenden Situationen. - 泣く („weinen“) – Emotional ausgelöst, aber in bestimmten Kontexten steuerbar.
→ 泣こうと思っている erscheint z. B. in literarischen Texten als Ausdruck innerer Entladung. - 驚く („sich erschrecken“) – Üblicherweise reflexiv und spontan.
→ 驚きたい wirkt ironisch oder stilistisch markiert. - 迷う („zögern / unsicher sein“) – Kognitive Handlung mit innerem Widerspruch.
→ 迷った末に決めた: „Nach langem Zögern habe ich entschieden.“
Diese Verben erfordern eine Kontextanalyse: Ist die Handlung steuerbar? Wird eine Reaktion beschrieben? Wird ein emotionaler Zustand dargestellt? Gerade in Literatur und emotionalen Situationen wird mit dieser Ambivalenz bewusst gearbeitet, um Nuancen in Kommunikation und Innenleben sprachlich auszudrücken.
意志動詞 vs. 意志動作 – lexikalische Klasse oder ausgeführte Handlung?
Die Begriffe 意志動詞 und 意志動作 ähneln sich äußerlich, unterscheiden sich jedoch deutlich in ihrer Funktion und Perspektive:
- 意志動詞 („volitionale Verben“) bezeichnet eine grammatische Kategorie: Verben, deren Bedeutung eine steuerbare, bewusst ausgeführte Handlung durch das Subjekt voraussetzt. Beispiele sind 書く (schreiben), 歩く (gehen) oder 話す (sprechen).
- 意志動作 („volitionale Handlung“) ist eine sprachwissenschaftliche Bezeichnung für den ausgeführten Handlungsprozess mit Willenssteuerung – unabhängig davon, ob das zugrundeliegende Verb lexikalisch als volitional klassifiziert ist. Es bezeichnet die konkrete Bewegung oder Tätigkeit im situativen Kontext.
Während 意志動詞 als verbale Klassifikation fungiert, beschreibt 意志動作 die funktionale Ausführung einer Handlung.
In didaktischen Kontexten wird meist mit dem Begriff 意志動詞 gearbeitet, da er direkt die grammatische Kompatibilität mit Konstruktionen wie ~たい oder ~よう beeinflusst. Wer die Differenz kennt, kann aber auch situationsabhängige Grenzfälle besser einordnen.
Zusammenfassung – Volition und Grammatik im Gleichgewicht
Die japanische Sprache unterscheidet grammatikalisch zwischen Handlungen, die bewusst gesteuert werden, und Prozessen, die ohne aktiven Willen ablaufen. Diese Unterscheidung beeinflusst die Verwendung zentraler Ausdrucksformen wie:
- 意志形 (~よう)
- ~たい
- ~つもりだ
- ~ことにする
- ~ようとする
Die Regeln folgen dabei nicht nur der Konjugationslogik, sondern verlangen auch ein semantisches Gespür: Ein grammatisch korrekt gebildeter Satz kann inhaltlich widersinnig sein, wenn das Verb nicht zur Konstruktion passt.
Faustregeln für Lernende
- 🟢 Volitionale Verben drücken steuerbare Handlungen aus und können mit Absichtsformen frei kombiniert werden.
- ❌ Non-volitionale Verben sind mit solchen Konstruktionen meist nicht sinnvoll.
- 🔺 Einige Verben sind ambivalent und kontextabhängig – besonders Gefühle und spontane Reaktionen wie 泣く oder 驚く.
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